Es ist ein über 2000 Jahre alter Stoff, der
Ransmayr zur Entstehung seines Romans Die
letzte Welt inspiriert hat. Schon vor Ransmayr haben sich einige der größten
deutschen Schriftsteller des Prinzips der Metamorphose bedient - man denke nur
an Goethes Faust II oder Kafkas Verwandlung. Mit Recht scheint
daher Wendelin Schmidt-Dengler zu sagen, "daß
kaum ein anderes Werk so in der Kulturgeschichte verankert ist - neben der
Bibel - wie dieses."
Umso interessanter ist es daher, dass sich
die Faszination dieses Werkes nicht in ein bestimmtes literarisches Genre
fassen lässt.
Es ist alles und doch nicht alles: Es ist ein
Epos und ein Lehrgedicht, es ist kohärent konzipiert und zerfällt doch in
unzählige Teile, es ist ein Schöpfungsbericht und mündet in die reale
Geschichte Roms, es ist teleologisch auf die Zeit des Augustus hin konzipiert
und läßt doch keinen Plan erkennen, der dies auch durchgehend begründete.
Aus diesem Werk Ovids entstand nun ein
neues, das sich auf den alten Stoff stützt, nämlich der Roman Die letzte Welt. Kein Geringerer als
Salman Rushdie lobte Ransmayr für sein Werk und bezeichnete ihn als einen "vorzüglichen Romancier",
zugleich betonte dieser allerdings auch, dass er auf der Basis eines viel
größeren literarischen Werkes stünde, auf den Metamorphosen Ovids. "Zu
viel ist von der Kraft dieses Werks entlehnt; [...]." Schmidt-Dengler sieht dies ähnlich, auch wenn er Ransmayr daraus
keinen Vorwurf zu machen scheint: "Er
[Ransmayr] parasitiert - und ich verstehe das nicht negativ - auf den
Metamorphosen Ovids."
Den außergewöhnlichen Erfolg seines Romans
verdankt Ransmayr somit zumindest teilweise dem antiken Original.
In dieser Fachbereichsarbeit möchte ich nun
versuchen, die Parallelen zwischen den beiden bereits genannten Werken zu
zeigen. Da die Metamorphosen in der Letzten Welt sehr deutlich ihre Spuren
hinterlassen haben, oftmals sogar in kleinsten, für die eigentliche Handlung des
Romans unwichtigen Details, ist es allerdings nicht möglich, wirklich jede
Stelle, an der Ransmayr etwas aus seiner Vorlage übernommen hat, aufzuzeigen.
Es ist außerdem auch fraglich, ob man je
alle mythischen Gestalten, die der Autor in seinem Roman versteckt hat, wieder
finden kann. Eine derart detaillierte Aufbereitung der Problematik würde den
Rahmen dieser Fachbereichsarbeit mit Sicherheit sprengen, sowohl in zeitlicher
Hinsicht als auch, was die zur Verfügung stehende Seitenanzahl anbelangt. Somit
beschränkt sich diese Arbeit allein auf ausgewählte Beispiele, Figuren und
Textstellen, die das Einwirken der Metamorphosen
auf Die letzte Welt verdeutlichen
sollen, und versucht ansatzweise Aufbau und Sprache der beiden Werke zu
vergleichen. Besonderes Augenmerk soll auf die Veränderungen, die Ransmayr
vornahm, gelegt werden. Der Autor übernahm die Figuren nicht einfach aus den Metamorphosen, sondern fügte neue
Charakterzüge hinzu und ließ so die Mythologie vermischt mit der Gegenwart neu
auferstehen.
Über Ovids Lebenslauf ist man sehr gut informiert, er selbst hat
in seinen Tristien sein Leben für die
Nachwelt festgehalten. Publius Ovidius Naso wurde am 20. März 43 v. Chr. in
Sulmo (dem heutigen Sulmona in Mittelitalien) geboren. Er gehörte einer Familie
aus dem Ritterstand an, studierte Rhetorik in Rom und arbeitete sich in der
Ämterkarriere rasch hoch. Allerdings fühlte sich Ovid zum Dichter bestimmt und
brach seine politische Laufbahn ab, um sich nur mehr der Dichtkunst zu widmen, ein
Vorhaben, vor dem ihn sein Vater sehr gewarnt haben soll: "Selbst Homer hat keine Schätze hinterlassen."
Unbeirrt verfolgte Ovid weiter sein Ziel,
erntete bereits mit seinem ersten Werk Amores
viel Erfolg und stieg zu einem
der gefeiertsten Dichter Roms auf.
Eines seiner umstrittensten Werke war die Ars amatoria, ein Lehrgedicht über die
Liebeskunst. Es wird vermutet, dass dieses Werk einer der Gründe für seine
spätere Verbannung nach Tomi gewesen sein könnte. Der wahre Grund für diese von
Kaiser Augustus bestimmte Verbannung im Jahre 8 n. Chr. ist bis heute nicht
bekannt. Möglicherweise war Ovid in eine der Affären Iulias, der Enkelin des
Augustus, verwickelt, was den Herrscher dazu veranlasste, den Dichter an eine
der Reichsgrenzen zu verbannen, an die Schwarzmeerküste nach Tomi (heute
Constanza in Rumänien). Ovid selbst sprach in seinen Tristien davon, dass es sich um einen Irrtum, nicht um ein
Verbrechen gehandelt habe. Den eigentlichen Grund für seine Verbannung verschwieg er. Er
erachtete es nicht für notwendig eine Erklärung abzugeben, da ohnehin jeder
darüber Bescheid wisse.
Sämtliche Bitten Ovids, das Urteil
aufzuheben, waren vergeblich. Ovid musste sich mit seiner Situation sowie mit
seiner gefährlichen Umgebung abfinden. Seine Verbitterung über das ungerechte
Urteil des Kaisers brachte er in den Tristien,
seinen Klageliedern aus der Verbannung, zum Ausdruck. Auch die Epistulae ex Ponto entstanden erst am
Schwarzen Meer. In beiden beklagte er sein schweres Schicksal. Um 17 n. Chr.
wurde Ovid durch den Tod von seiner Einsamkeit erlöst.
Sein wohl bekanntestes Werk, und dieses
soll hier auch näher behandelt werden, sind seine rund 250 Verwandlungssagen,
die Metamorphosen, ein episches
Sagengedicht in 15 Büchern, dessen Handlung sich von der Entstehung der Erde
und der Menschheit bis hin zur Gegenwart des Autors erstreckt.
Bevor Ovid sein Hauptwerk publizieren
konnte, trieb ihn des Kaisers Wort in die Verbannung, fort von seiner geliebten
Heimatstadt. Zuvor verbrannte er noch seine Metamorphosen, jedoch waren
bereits Abschriften in den Händen von Freunden. Wie sonst hätte die Nachwelt
sich mit ihnen auch befassen können?
Zahlreiche bekannte Werke, wie zum Beispiel
Goethes Faust II und Kafkas Verwandlung greifen die Thematik von
Ovids Metamorphosen wieder auf. Es scheint, als habe Ovid Recht, sein „Name wird unzerstörbar sein und durch alle
Jahrhunderte im Ruhm fortleben.“ Auch in der Moderne scheint es, als habe dieses Werk nichts von
seiner Aktualität eingebüßt. So manche Künstler aus Musik und Malerei ließen
sich durch das Epos inspirieren. Picasso haben die Metamorphosen zu
Radierungen inspiriert, Salvador Dali zu seinem Gemälde 'Narcissus'. Benjamin
Britten komponierte die Oboenstücke 'Sechs Metamorphosen nach Ovid'.
Zuletzt reihte sich Christoph Ransmayr in
die lange Liste jener ein, die den Stoff Ovids behandelten.
Geboren wurde der aus Wels stammende Autor
am 20. März 1954. Nach der Matura begann er 1972 sein Studium der Philosophie
und Ethnologie in Wien. Von 1978 bis 1982 war Ransmayr Kulturredakteur der
Wiener Monatszeitschrift Extrablatt
sowie freier Mitarbeiter verschiedener bundesdeutscher Zeitschriften
(TransAtlantik, Merian, GEO...)
Seit 1982 arbeitet er als freier
Schriftsteller, er lebt in Irland und in Wien. 1982 veröffentlichte Ransmayr
sein erstes Werk Strahlender Untergang.
Zwei Jahre später erschien sein Roman Die
Schrecken des Eises und der Finsternis, eine Rekonstruktion einer
österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition in der Zeit von 1872 bis 1874.
1986 erhielt Ransmayr den Literaturpreis
des Bundesverbandes der deutschen Industrie sowie ein Elias-Canetti-Stipendium
der Stadt Wien bis 1988. Nach dreijähriger Arbeit erschien sein drittes Werk, Die letzte Welt, 1988. Dieser Roman
wurde ein großer, international viel beachteter Erfolg und in 26 Sprachen
übersetzt. Die Zeit bezeichnete ihn als „einen
der schönsten Romane der Gegenwartsliteratur“. Der Roman wurde für seine stilistische Eleganz und seine poetische
Sprache gelobt und 1989 mit dem Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen
Industrie ausgezeichnet.
Nach der Veröffentlichung der Letzten Welt unternahm Ransmayr
zahlreiche Reisen. In einem Gespräch mit Volker Hage im Jahr 1991 in Hamburg
erwähnte der Autor, dass er keine Ambition habe,
so schnell in irgendeine Art von Öffentlichkeit
zurückzukehren. Es gibt doch keinen größeren Luxus, als Zeit zu haben und mit
einer Arbeit auch über Jahre hinweg allein zu sein.
Erst sieben Jahre nach der Veröffentlichung
der Letzten Welt erschien sein Roman Morbus Kitahara. 1997 wurde Der Weg nach Surabaya veröffentlicht.
Wie kam es nun dazu, dass sich Ransmayr den
Metamorphosen zuwandte? Der Auslöser
war ein Übersetzungsauftrag. Hans Magnus Enzensberger bat Ransmayr darum, eine
Prosafassung der Metamorphosen Ovids
für Die Andere Bibliothek anzufertigen.
Nach einer ersten Auseinandersetzung mit den alten Verwandlungsgeschichten
erkannte der Autor einige Figuren der Metamorphosen in seiner Umwelt wieder. Im
Mostviertel, zum Beispiel, entdeckte er eine der Weberin Arachne gleichende
Frau, die sich eine Welt aus Teppichen errichtet hatte.
Von da an gelang Ransmayr sein Ziel nicht
mehr, nur eine Übersetzung zu verfassen. Es entstand ein Roman, in dem der
Autor Ovids Verwandlungen mit seinen Phantasien vermischte, „eine Verschmelzung aus der Welt des
Römischen Reiches und der heutigen Welt.“
Während die Metamorphosen einen Zeitraum von der Entstehung der Welt bis hin zu
Ovids Gegenwart umfassen, enthält die Letzte
Welt, wie Wendelin Schmidt-Dengler meint, "die Schilderung von der Epoche des Augustus bis an das
Weltende."
Strukturell weisen die Metamorphosen und Die Letzte
Welt relativ große Unterschiede auf. Ovids Werk hat in den fünfzehn Büchern
keine durchgehende Handlung, der Dichter stellt vielmehr eher unabhängige,
kurze Verwandlungsepisoden nebeneinander. Der Bezug zu Ovids Metamorphosen wird bei der Einteilung
der Handlung der Letzten Welt in
fünfzehn Kapitel offensichtlich. Anders als das Epos enthält der Roman
allerdings mehrere Handlungsstränge, die mit Verwandlungsepisoden und völlig
fiktiven Handlungsabschnitten zu einer durchgehenden Haupthandlung verflochten
werden. Die Verwandlungsepisoden wie auch aus den Metamorphosen stammende Figuren werden an die Handlung angepasst. "Aus der spielerisch leichten, kaum
greifbaren Welt des Epos sind sie meist in die bedrohliche, düstere und arme
Welt von Tomi versetzt und ihr angepasst worden."
Um den richtigen Ausgangspunkt für die
Handlung der Letzten Welt zu finden,
lässt Ransmayr Ovid nicht irgendeine Abschrift der Metamorphosen in die lodernden Flammen werfen, sondern das Original
selbst.
Gleich danach verschwindet Naso, wie der
Dichter im Roman genannt wird, ans Ende der Welt, nach Tomi. So scheint das
Werk für immer verloren. Doch Cotta, ein überzeugter Anhänger Nasos, macht sich
auf den Weg zur Schwarzmeerküste, um den dorthin verbannten Dichter zu suchen,
auch in der Hoffnung, mit "einer
neuen Fassung oder einer in die Verbannung geretteten Abschrift der
Metamorphoses" zurückzukehren. Der historische Marcus Aurelius Cotta war vermutlich
ein naher Freund Nasos, da der Dichter einige Briefe aus der Verbannung an ihn
richtete. Dass Cotta eine Reise nach Tomi unternommen hat, ist historisch
allerdings nicht verbürgt und entspringt der Phantasie Ransmayrs.
Die
Letzte Welt zeichnet sich durch eine zeitlose Sprache aus, die äußerst
reich an Details ist. Der Autor verwendet sehr viele Begriffe zur Beschreibung
von Landschaft und Natur, wie etwa "Schroffen
und Graten". Durch diese Liebe zum Detail entsteht vor dem Auge des Lesers ein
Bild des Geschehens. Der Autor verfügt über eine sehr poetische Sprache, die
dem modernen Leser zuerst eher ungewohnt erscheint. "Aber sein hoher Stil trifft sich mit dem hohen Stil des antiken
Epos, [...], wie Epple betont.
Ein Beispiel für die poetische Sprache
findet sich gleich auf der ersten Seite des Romans, als der Autor von Cottas
Fahrt nach Tomi berichtet:
Ein Orkan, das war ein Vogelschwarm hoch oben in
der Nacht; ein weißer Schwarm, der rauschend näher kam und plötzlich nur noch
die Krone einer ungeheuren Welle war, die auf das Schiff zusprang.
Eine ähnliche Beschreibung lässt sich bei Ovid
in den Schilderungen seiner Reise zur Schwarzmeerküste finden:
Wellen wie Berge bespringen den Bug und das Heck
des gekrümmten
Schiffes [...].
In beiden Textabschnitten "springen" die Wellen der
wilden See auf das Schiff zu.
Auch die von Ransmayr oft verwendeten
rhetorischen Figuren lassen sich bei Ovid finden. Gleich zu Beginn des Romans
setzt der Autor einige rhetorische Figuren ein, wie etwa Anaphern. Genau
genommen beginnt der Roman mit einer Anapher:
Ein Orkan, das war ein Vogelschwarm [...]. Ein
Orkan, das war das Schreien [...]. Ein Orkan, das war die Reise nach Tomi.
Diese dreimalige Wiederholung des Wortes "Orkan" soll den Leser in den
Roman "hineinziehen." Natürlich bleibt es nicht bei einer einzigen Anapher.
Tomi, das Kaff. Tomi, das Irgendwo. Tomi, die
eiserne Stadt.
Der
Beginn des Romans zeichnet sich durch eine große Dichte von Anaphern und
anderen rhetorischen Figuren aus, dies verdeutlicht Ransmayrs "starken Stilwillen". Neben den häufig verwendeten Anaphern finden sich auch
Alliterationen:
Die Gassen waren laut vom Getöse
der Blechmusik und die Nächte vom Geplärr der Festgäste - Bauern,
Bernsteinsucher und Schweinehirten, die aus den verstreuten Gehöften
und den entlegensten Hochtälern des Gebirges gekommen waren.
Diese Alliterationen und die "Häufung der klanglich wenig schönen
Umlaute" sollen die Charakterisierung Tomis als eine gleichermaßen
anarchische wie archaische Stadt verdeutlichen.
Lange komplexe Satzgefüge und Ellipsen
wechseln einander ab. Einfache Aussagesätze werden von Ransmayr vermieden.
Neben der fiktiven Handlung in Ransmayrs
Roman existieren Passagen, die zwar verändert wurden, aber dennoch deutlich
erkennen lassen, woher sie stammen: aus den Metamorphosen.
Dies wird etwa bei der Beschreibung der Sintflut mehr als deutlich:
Jener schifft über Saaten dahin, übers Dach des
versunknen
Hofes, und dieser fängt einen Fisch im Wipfel
der Ulme.
Anker geworfen wird vielleicht auf grünender
Wiese,
Oder es streift der geschwungene Kiel die Höhe
des Weinbergs,
Und, wo eben noch Gräser genascht die zierlichen
Geißen,
Dorthin betten jetzt ihre plumpen Leiber die
Robben.
Unter dem Wasser bestaunen die Töchter des
Nereus die Haine,
Städte und Häuser, es tummeln im Wald sich
Delphine, sie stoßen
Gegen das hohe Gezweig und erschüttern mit
Schlägen die Stämme.
Schwimmt zwischen Schafen der Wolf, entführt die
Woge die fahlen
Löwen, die Woge die Tiger; nichts frommt dem
Eber der Hauer
Blitzkraft, nichts dem treibenden Hirsch die
Schnelle der Schenkel.
Und, der schweifend lange nach Erde gesucht, die
zum Sitz ihm
Diene, der Vogel sinkt ins Meer mit ermatteten
Schwingen.
Bei Ransmayr:
Dann fielen auch die Vögel auf der vergeblichen Suche
nach einem Ort der Rast erschöpft in die Wellen und sanken in Schwärmen an die
Felder und Städte des Grundes hinab. In den kahlen Alleen, durch Säulengänge
und Arkaden glitten Delphine dahin; auf den Dachfirsten wuchsen Seeanemonen,
auf Schornsteinen Korallen. Flundern tarnten sich im Staub der Straßen. Wie zu
einem Fest der Wiederkehr der Vögel, die Schwarm um Schwarm in die Tiefe
sanken, wehten an den Häusern Fahnen aus Algen und Tang.
Trotz der Tatsache, dass Ransmayr das Grundgerüst
des Sintflutmythos aus den Metamorphosen von
Ovid übernimmt, bleibt ihm noch genug Raum für seine Kreativität. Nicht nur der
Inhalt dieser hier angeführten Textpassagen deckt sich, es gibt sogar teilweise
wörtliche Übereinstimmungen. Die unter den Fluten begrabenen "Städte" existieren sowohl bei
Ovid als auch bei Ransmayr. Ganz ähnlich verhält es sich mit den "Delphinen", die sich bei Ovid
im "Wald tummeln", während
der Autor der Letzten Welt diese
Meeresbewohner "durch Säulengänge
und Arkaden" gleiten lässt. Ransmayr listet, wie es für seine
detaillierte Sprache typisch ist, einige Namen von Vertretern der unter Wasser
lebenden Tier- und Pflanzenwelt auf.
Ovid hingegen beschäftigt das Leben
beziehungsweise Sterben oberhalb des Wassers viel mehr. In seiner Textpassage
erwähnt er Menschen, die sich in Boote gerettet haben, und die im Wasser
umhertreibenden Landtiere. Ovid macht deutlich, dass das Wasser nicht das
Element des Ebers und des Tigers ist, sondern das der Delphine und der Robben.
Die ersten Zeilen klingen beinahe positiv und harmlos. Dies endet allerdings
mit der Gegenüberstellung von den "zierlichen
Geißen" und den "plumpen
Leibern der Robben". Es drängt sich der Gedanke auf, dass das Meer mit
seinen Bewohnern das erschreckende Element darstellen soll.
Ovids Textstelle endet mit der Beschreibung
eines zu Tode erschöpften Vogels, der aufgrund der Sintflut keinen Rastplatz
finden kann und ins Meer stürzt. Ransmayr setzt "die Vögel" an den Beginn seiner Textpassage, bildet also
gleichsam eine Fortsetzung der Metamorphosen.
Auf diesem Prinzip baut der gesamte Roman auf.
Bei Ovid wird die Sintflut durch den Gott
Juppiter bestimmt, um die frevlischen Menschen des Eisernen Zeitalters zu
bestrafen. Die gesamte Menschheit verschwindet unter den Fluten, nur Deukalion
und Pyrrha werden verschont. Durch sie entsteht die Menschheit neu. Aus Steinen
werden Menschen - ein neuer Anfang.
In der Letzten
Welt liegt die Sintflut in der Zukunft, sie ist eine Weltuntergangsvision
Nasos. Diese bedeutet den Untergang der Menschheit. Echo erklärt, Naso habe
einen „hundertjährigen Wolkenbruch“
angekündigt „der die Erde reinwaschen
werde.“
Auch die Verwandlungen selbst haben
verschiedene Bedeutungen. In den Metamorphosen
werden sie von den Göttern meist als Strafe, zum Schutz oder Trost
eingesetzt.
In der Letzten
Welt dienen die Verwandlungen meist zur Erlösung von Menschen, die in Tomi
ein geradezu grauenhaftes Dasein fristen. Es gibt keinerlei Beziehungen
zwischen den Bewohnern der eisernen Stadt und sie begegnen auch Cotta mit
völliger Gleichgültigkeit. Nur die Dirne Echo wird zu Cottas Verbündete und
berichtet ihm von ihren Gesprächen mit Naso.
Wie tröstlich und menschenwürdig sei doch das
Schicksal der Versteinerung gegen den ekelerregenden, stinkenden [...] Prozeß
des organischen Verfalls, habe Naso gesagt; gegen diese Widerlichkeit erscheine
die Versteinerung geradezu als Erlösung, als grauer Weg ins Paradies der
Halden, der Kare und Wüsten.
In der Letzten
Welt werden Menschen zu Stein oder Tieren. Einige werden von Ransmayr
direkt in die Handlung eingebaut. Doch nicht immer sind die Verwandlungen so
eindeutig wie bei Ovid. Für den Leser bleibt es zuerst ein Rätsel, ob nun
Lycaon tatsächlich der umherjagende Wolf ist, dem Cotta einige Male begegnet.
Auch weiß niemand, was aus Echo geworden ist, als sie eines Tages verschwindet.
Dass sie tatsächlich zum Widerhall wird, kann der Leser nur vermuten. Erst als
Cotta in Trachila die von Pythagoras beschrifteten Stofffetzen liest, kann sich
der Leser mehr oder weniger sicher sein, dass die beiden verwandelt wurden.
Neben den tatsächlichen Verwandlungen im
Roman fügt der Autor noch einige hinzu, die der Leser durch die Filme von
Cyparis oder durch die Erzählungen Echos wie etwa die von Deucalion und Pyrrha
erfährt.
Um Ovids Mythenbilder in Die letzte Welt einzubinden muss
Ransmayr das Umfeld der einzelnen Figuren verändern. Dadurch soll die Rolle der
Verwandlung, die der Erlösung dienen soll, verdeutlicht werden. Die
Verwandlungen sind im Grunde die Sehnsüchte der Verwandelten. So wird der
fallsüchtige Battus von seinen Leiden erlöst, als er zu Stein wird. Die
korpulente Procne wird zu einer schlanken Schwalbe.
Das Prinzip der Verwandlung bleibt
erhalten. Wie in Ovids Metamorphosen
wird zum Beispiel Lycaon zum Wolf und Cyparis zum Baum. Auf Letzteren soll noch
näher eingegangen werden. Der Weg und die Aufgaben, die die Figuren verfolgen,
sind allerdings andere als in den Metamorphosen.
So entsteht eine Neugestaltung dieser Figuren, in deren Hintergrund das Werk
Ovids steht.
Wie bereits erwähnt, dient das historisch
verbürgte Schicksal Ovids als Grundlage für diesen Roman. Allerdings ist der
Ovid des Romans "eine völlig fiktive
Figur" und wird in der Letzten Welt ausschließlich Naso - das
Cognomen des historischen Ovid - genannt. Zur Verblüffung des Lesers erscheint
der Protagonist nie wirklich, sondern gilt als verschwunden, wenn nicht sogar
verstorben. Nur in den Rückblicken Cottas werden einige wenige Charakterzüge
Nasos deutlich, wie etwa seine Ruhmbegier, sein Ehrgeiz und sein überhebliches
Verhalten. Letzteres zeigt sich in dem in Trachila auf Steinsäulen
eingemeißelten Text.
ICH HABE EIN WERK VOLLENDET
DAS DEM FEUER STANDHALTEN WIRD
UND DEM EISEN
SELBST DEM ZORN GOTTES UND
DER ALLESVERNICHTENDEN ZEIT
WANN IMMER ER WILL
MAG NUN DER TOD
DER NUR ÜBER MEINEN LEIB
GEWALT HAT
MEIN LEBEN BEENDEN
ABER DURCH DIESES WERK
WERDE ICH FORTDAUERN UND MICH
HOCH ÜBER DIE STERNE EMPORSCHWINGEN
UND MEIN NAME
WIRD UNZERSTÖRBAR SEIN .
Diese zuletzt zitierte Huldigung ist ein
Textausschnitt, den Ransmayr von Ovid übernommen hat. Er stammt aus den Metamorphosen, das „Nachwort“ des Dichters.
Ransmayr selbst beschreibt seinen Naso
folgendermaßen:
Mein Naso wird ebenso als luxussüchtiger, beifallssüchtiger Mann
beschrieben, einer, der [...] verzückt dem Aufrauschen des Beifalls lauscht und
dieses Rauschen als Musik empfindet [...] und sich vorstellt, daß all dieser
Beifall, diese ungeheure Zustimmung ihm gilt, ihm! Aber die Wahrheit, die Größe seiner Dichtung bleibt selbst von
seiner Eitelkeit [...] unberührt.
Ein wichtiger Punkt, in dem sich die
fiktive Gestalt Nasos von der historischen Figur Ovids unterscheidet, ist der
Grund für die Verbannung. Ovid hätte wohl kaum wie Naso im Beisein des Augustus
vor zweihunderttausend Römern eine gesellschaftskritische Rede gehalten. In
dieser Rede erzählt Naso von der Pest auf Aegina, einem Mythos, der sich auch
in den Metamorphosen findet. Die Rede
ist in den Augen der Staatsbehörde eine einzige Beleidigung, da Naso die
Huldigung des Imperators zu Beginn seiner Rede weglässt und das Volk Roms mit
einem Ameisenvolk zu vergleichen scheint. Ein gesellschaftlicher Fauxpas, der
nicht ohne Konsequenzen bleibt: Der Staatsapparat setzt sich in Bewegung,
Erkundigungen werden eingeholt, Intrigen gesponnen und bald kursiert das
Gerücht, eine gewisse Dichtung "sei
nur deswegen noch immer unveröffentlicht, weil kein Drucker sich an ein Werk
wagte, das dem Dichter zur Bloßstellung und Beleidigung Roms mißraten war:
Metamorphoses." Seine gewagte Rede kommt Naso teuer zu stehen, sein Schicksal
ereilt ihn und das von Augustus selbst nie ausgesprochene, aber von den
Behörden schon längst gefällte Verbannungsurteil wird besiegelt.
Wie der Sintflutmythos zeigt auch die
Erzählung von der Pest auf Aegina, wie genau sich Ransmayr mit den Metamorphosen Ovids auseinander gesetzt
hat. Wieder übernimmt der Autor eine Textpassage aus dem antiken Epos in
abgewandelter, aber dennoch erkennbarer Form. Doch bei aller Übereinstimmung
gibt es auch einen grundlegenden Unterschied: die Figur des Erzählers. Bei Ovid
wird das Ereignis aus der Perspektive des Aeacus, des Königs von Aegina,
geschildert.
Sicher ist dies: es drang auch in Seen und
Quellen der Schaden;
Schlangen, tausende, krochen im unbestellten
Gelände
Weit umher und verseuchten den Fluß mit dem Gift
ihres Geifers.
Sterben von Hunden und Vögeln, von Schafen und
Rindern, des Wildes
Ließ zuerst die Macht der jähen Krankheit
erkennen.
Mitten im Werken sieht, erstaunt, der betroffene
Pflüger
Stürzen die starken Stiere und sinken hin in die
Furche.
[...]
Decken des Lagers, Umhüllung vermögen sie [die
Kranken] nicht zu ertragen:
Bäuchlings betten sie nackten Leib auf die Erde,
doch wird nicht
Kühl von dem Boden der Leib, der Boden wird heiß
von dem Leibe.
[...]
Und nicht früher erlischt der Trinkenden Durst
als ihr Leben.
[...]
Manche schnürten den Atem sich ab, vertrieben
die Todes-
angst durch den Tod und riefen sich selbst das
kommende Schicksal.
Durch diese Ich-Erzählung kommen die
Gefühle des Aeacus gegenüber dem Erlebten zum Vorschein. Sein Mitleid mit
seinem gepeinigten Volk wird verdeutlicht sowie auch der Wunsch ihm in den Tod
zu folgen. Im Gegensatz dazu wird die Pest auf Aegina bei Ransmayr aus der
auktorialen Perspektive eines objektiven Erzählers berichtet.
Bei einem Vergleich mit der Letzten Welt lassen sich einige
Übereinstimmungen finden.
Als achter Redner im Stadion
erhob Naso nun seine Stimme und begann die
Schrecken der Pest zu beschwören, erzählte von einer Seuche, die im Saronischen
Golf, auf der Insel Aegina, gewütet hatte, erzählte von der Dürre eines
Sommers, in dem als erstes Zeichen des Unheils Millionen von Schlangen durch
den Staub der Felder gekrochen seien und vom Gifthauch, der dem Zug der Vipern
gefolgt war; von Ochsen und Pferden, die im Geschirr und vor dem Pflug
plötzlich niederbrachen und verendeten, noch bevor ein Knecht sie aus dem Joch
nehmen konnte, erzählte von den Bewohnern der Städte, denen der Tod in
schwarzen Beulen aus dem Leib brach.
Die Pest wird in beiden Fällen mit einer
schrecklichen Dürre eingeleitet. Auch die über die trockene Ebene kriechenden "Schlangen" werden von Ransmayr
übernommen, nur mit der kleinen Veränderung, dass er ihre Anzahl erhöht. Zuerst
verendet das Vieh aufgrund der Seuche. Die vor den Pflug gespannten Tiere
sterben während der Arbeit. Im Falle Ovids handelt es sich um Stiere, bei
Ransmayr sind es Ochsen und Pferde. Auch die Gestalt des Pflügers, der die
Tiere dahinscheiden sieht, bleibt in der Letzten
Welt erhalten. Das nächste Opfer der Pest sind die Menschen. Das Fieber
befällt die Menschen und jegliche Versuche, die Ovid beschreibt, die glühenden Körper
auf dem Boden zu kühlen, bleiben erfolglos. Auch in der Letzten Welt werden die Qualen der Erkrankten geschildert.
[...] vergeblich versuchten die Bewohner
Aeginas, ihre glühende Haut an den Felsen zu kühlen, preßten ihre Stirn gegen
die Schollen und umarmten die Steine.
Aber diese Glut, sagte Naso, war nicht zu
kühlen. An diesem Fieber, sagte Naso, erwärmten sich selbst die Felsen und
alles Land.
Zwar versuchen sich die Einwohner Aeginas
in der Letzten Welt an Steinen zu
kühlen, ihr Bemühen ist aber genauso erfolglos wie bei Ovid.
Der Durst treibt die geplagten Gestalten
zum Wasser, doch es ist ihnen nicht möglich sich von diesem Durst zu befreien. "Der Durst der Pest war nur mit dem
Tod zu löschen." Diese Tatsache lässt sich ebenso in den Metamorphosen finden. Wie bereits vorher angeführt, spricht auch
Ovid vom qualvollen Durst, der erst nach dem Ableben erlischt.
Selbstmord scheint ein Ausweg aus dieser
misslichen Lage zu sein. Während in den Metamorphosen
nur davon gesprochen wird, dass sich Kranke den Atem abschnüren, werden in der Letzten
Welt mehrere konkrete Möglichkeiten aufgezählt, wie sich die Verseuchten
das Leben nehmen. Aus Mitleid mit anderen werden sogar Morde begangen.
Wem bis zu dieser Stunde noch die Kraft dazu
geblieben war, sagte Naso, der tötete seinen Nächsten aus Mitleid und legte
dann Hand an sich, stach zu, stürzte in eine Schlinge oder die Kalkklippen
hinab oder fraß als letzte Arznei Kristallscherben und Glas.
Ransmayrs Steigerung hat den Sinn, das
grausame Wüten der Seuche zu verdeutlichen. Als Aegina vor dem völligen
Zusammenbruch steht, entstehen die Bürger neu. Die auf einer Eiche beheimateten
arbeitswütigen Ameisen werden zu den neuen Bewohnern der Stadt. Diese
Verwandlung der Ameisen in das neue Volk gestalten beide Autoren verschieden,
während die Beschreibung des Niedergangs der Bewohner ziemlich ähnlich
verläuft. Ransmayr passt die Verwandlungsszene an die Handlung seines Romans
an.
Bei Ovid spielt der Erzähler König Aeacus,
der ein Sohn des Juppiter ist, eine bedeutende Rolle: Er fordert sein Volk von
seinem Vater zurück. Sollte ihm Juppiter das nicht gewähren, will er den
Seinigen in den Tod folgen. In einem Traum in der darauf folgenden Nacht
erscheint ihm die Eiche mit den Ameisen, die in diesem Traum menschliche
Gestalt annehmen.
Da schien mir vor Augen zu stehn die nämliche
Eiche,
Gleichviel Äste zu tragen und gleichviel Getier
in den Ästen,
Schien, in der nämlichen Weise bewegt, zu
erbeben, aufs Feld dort
Unter ihr auszustreun den körnerschleppenden Heerzug.
Den sah plötzlich ich wachsen und größer werden
und größer,
Sah ihn vom Boden sich heben und aufrecht tragen
die Rümpfe,
Sah ihn das Dürre verlieren, die Zahl der Beine,
die schwarze
Farbe und sah ihn am Leib die Gestalten von
Menschen gewinnen.
Am nächsten Tag ist das verlorene Volk
ersetzt.
Bei Ransmayr verläuft dies etwas anders.
Erst als der letzte Mensch sein Leben verloren hat, verlassen die Ameisen die
Eiche, erobern die Leichen im Kampf gegen die Fliegen und formen aus sich und
den Kadavern neue Menschen. Das neue Geschlecht Aeginas ist entstanden.
Als auf Aegina in diesen Tagen auch die Klage
des letzten Menschen verstummt war, verließen die Ameisenvölker ihre Eiche,
flossen den Stamm hinab wie das Wasser eines Wolkenbruchs, verteilten sich in
vielen Adern über die Leichenfelder und ergriffen dort von allen Leerräumen
Besitz, [...]. In immer dichteren Scharen rannten sie dahin und schlossen sich
in den Höhlungen zusammen, verdichteten sich zu neuen, zuckenden Muskeln, zu
Augen, Zungen und Herzen, ja formten, wo Glieder verwest waren und fehlten, mit
ihren Leibern das Fehlende nach, Arme, Beine, wurden zu Armen und Beinen und formierten sich zuletzt auch zu
Gesichtszügen, zum Ausdruck und Mienenspiel; aus ihren schon verschwindenden
Mäulern spieen sie dann weißen Schleim, der auf den Skulpturen ihrer Masse zu
Menschenhaut erstarrte und wurden so vollends zum neuen Geschlecht von Aegina,
einem Volk, das im Zeichen der Ameisen stand: [...].
Ovid beschreibt das neue Geschlecht von
Aegina als ein äußerst zähes, sparsames Volk. Ransmayr bezeichnet das neue Volk
als stark. Allerdings fügt Ransmayr noch einen gesellschaftskritischen Aspekt
hinzu. Einem eher unaufmerksamen Zuhörer, wie zum Beispiel der Imperator einer
ist, wird diese Kritik möglicherweise entgehen, da Naso durchaus positiv
klingende Worte in den Mund nimmt. Er spricht von einem zähen und wandelbaren
Volk, das willenlos den Herrschern folgt und keine Fragen stellt. Bei genauerem
Zuhören wird die Kritik an diesem Volk nur allzu deutlich. Es ist "beherrschbar wie kein anderes
Geschlecht." Dies gilt zwar eigentlich dem Volk Aeginas, allerdings trifft diese
Aussage auch auf das viel zu gefügige und willenlose Volk Roms zu. Wie die
Eiche der Verwandlungsort für die Ameisen war, so soll auch das neue Stadion
ein Verwandlungsort für das römische Volk sein und aus ihm ein
"neues" Volk werden. Die Rede Nasos ist ein verzweifelter Versuch die
Bevölkerung Roms aus ihrem Trott aufzuwecken, doch das Publikum antwortet ihm
mit dem selben erzwungenen Beifall wie allen anderen Rednern, denn "Begeisterung war Vorschrift".
Mit dieser Rede hat Naso nichts erreicht,
außer sein Verbannungsurteil.
"Es
war Nasos letzter Tag in Rom," heißt es in der Letzten Welt.
Und an diesem werden die Pforten seines Hauses für die Trauernden geöffnet,
nicht nur für Freunde und Verwandte, sondern auch für Fremde und Neugierige.
Über diesen letzten Tag beziehungsweise die letzte Nacht in Rom berichtet Ovid
selbst in seinen Tristien, er spricht
vom traurigen Abschied von seinen Freunden und vor allem von seiner geliebten
Frau. Im Gegensatz zu Ransmayrs Roman scheinen damals nur engste Angehörige
Ovids in jenen schmerzvollen Abschiedsstunden bei ihm gewesen zu sein. Bei
Ransmayr hingegen, ist es, wie bereits vorher erwähnt, auch völlig fremden
Personen gestattet, das Haus des Verbannten zu betreten. So kann sich auch
Cotta, der in der Letzten Welt nicht
einmal ein entfernter Freund Nasos ist, Zutritt zu Nasos Villa verschaffen.
Wie durch die Tristien überliefert, zieht Naso völlig allein an die
Schwarzmeerküste, da er es, aufgrund seiner seelischen Unruhe, verabsäumt hat
sich einen Begleiter zu suchen.
Weder hatt' ich Besinnung noch Ruhe, genug mich
zu rüsten;
War doch der Geist mir erstarrt während des langen
Verzugs.
Nicht mir Diener und nicht mir Begleiter zu
wählen bedacht' ich ,[...].
Auch in Ransmayrs Roman zieht Naso allein
von dannen. Es ist auch nicht gestattet, ihm nachträglich zu folgen. Wer den "Delinquenten nicht vom ersten Tage an
in die Verbannung begleite, der habe seine verwandtschaftliche Nähe für immer
preisgegeben."
Seiner Frau hat Ovid angeblich gegen ihren
Willen verboten, ihn zu begleiten, obwohl sie mit folgenden flehenden Worten zu
ihm gesprochen haben soll:
Trennen kann man uns nicht: laß zusammen von
hinnen uns gehen!
Dir will ich folgen: verbannt sei ich mit dir
als dein Weib!
Ähnlich ergeht es auch Cyane, wie Nasos
Frau bei Ransmayr genannt wird. Sie ist ebenfalls eine mythologische Figur, die
aus den Metamorphosen stammt. Genauer
gesagt ist sie eine sizilische Nymphe, die es wagt sich dem Gott der Unterwelt
in den Weg zu stellen, als er gerade Proserpina rauben will. Auffallend ist sofort, dass Cyane bei Ransmayr "aus einer der großen Familien Siziliens" stammt. In der Letzten Welt
wird ihr die Bitte, ihren Gemahl in die Verbannung begleiten zu dürfen, von ihm
selbst abgeschlagen.
Naso hatte seine Cyane noch am Tag des Abschieds
von Rom in der Hoffnung auf eine frühe Begnadigung daran gehindert, ihn an das
Schwarze Meer zu begleiten; auch mochte es ihm eine Beruhigung gewesen sein,
das Haus und sein Vermögen [...] in der Obhut und Verwaltung seiner Frau zu
wissen.
Noch scheint die Hoffnung einer Begnadigung
nicht erloschen. Für den Fall einer Rückkehr Ovids soll Cyane einstweilen für
sein Hab und Gut sorgen. In den Tristien
scheint jegliche Hoffnung bereits verschwunden. "Für alle Zeit" verabschiedet Ovid sich von den Göttern. Diese andere
Grundeinstellung mag daran liegen, dass Ovid schon in Tomi lebt, als er davon
schreibt, während Ransmayrs Naso erst zu dem beschwerlichen Ort aufbricht.
Mit dem Verbannungsurteil bricht für Ovid
sein Leben und seine Welt in Rom zusammen. Er wirkt fast wie ein Verstorbener,
als er die Metropole verlässt. Ovid spricht in seinen Tristien selbst von einer "Totenklage", die am Tag seiner Abreise durch sein Haus hallt. Zurück bleibt die
bestürzte Frau und die "verwaiste
Behausung". Ähnliche Aspekte lassen sich auch in der Letzten Welt aufzeigen: "Das
Anwesen verkam." Man kann den Eindruck gewinnen, als käme für die Villa dieses
Verbannungsurteil einem Todesurteil gleich, womit sich der Verfall von Nasos
Haus erklären lässt. Der ehemalige Besitzer scheint einfach nicht mehr zu
existieren.
Es ist beinahe erschütternd, wie die
Bevölkerung dieser Küstenstadt geschildert wird. Man könnte sie fast mit einer
großen, in sich verschmolzenen Masse vergleichen. Individuelle Charakterzüge
sind kaum vorhanden. Es werden nur wenige für die jeweiligen Personen
sprechende Eigenarten erwähnt. Im Falle der Krämerin Fama ist dies
beispielweise ihre Geschwätzigkeit, die auf die Metamorphosen verweist, bei Ovid ist sie die Göttin des Gerüchts.
Bemerkenswert aber sind wohl eher die
Gemeinsamkeiten der Bewohner. Auffallend ist die Gleichgültigkeit der Bürger.
Die Angelegenheiten anderer sind nur kurzfristig interessant. Völlig
teilnahmslos blicken die Bürger auf die Schicksale ihrer Mitmenschen. So
verhält es sich auch, als Cotta die Küste erreicht. Nur für kurze Zeit wird er
als der Fremde aus Rom wahrgenommen. Schon wenige Zeit später sehen die
Einwohner Tomis ihn mit den gleichen trüben Augen an wie vor seiner Ankunft und
erkennen ihn schon als einen der ihren an. Ihrer gesamten Umwelt stehen sie mit
diesem Desinteresse gegenüber und harren nur auf den Augenblick, in dem der
Filmvorführer Cyparis wieder die Stadt betritt und mit seinen Filmen aus
anderen Welten den öden Alltag vertreibt.
Vielleicht liegt der Grund für diese
Sehnsucht nach der Ferne darin, dass ausnahmslos alle Bürger Tomis nur durch
Zufall hier gelandet sind. Obwohl die meisten von ihnen ein völlig anderes Ziel
vor Augen hatten, haben sie sich in dieser kargen Stadt angesiedelt.
Aus Famas Klagen erfuhr Cotta nach und nach
[...] daß an der Küste Tomis alle
Schicksale einander zumindest in einem Punkt glichen: Wer immer sich in den
Ruinen, Höhlen und verwitterten Steinhäusern Tomis heimisch gemacht hatte, kam
selbst aus der Fremde, aus dem Irgendwo.
Die Bezeichnung 'Stadt' verdient Tomi eigentlich
gar nicht. Der Leser erfährt gleich zu Beginn des Romans, als Cotta die Küste
erreicht, dass von den neunzig Häusern schon viele leer stehen. Wenn sich
jemand hierher verirrt hat, so nahm er eines dieser Häuser in Besitz, das sonst
dem Verfall ausgeliefert gewesen wäre. Viele der Bürger wollen auch nicht hier
in Tomi bleiben und sprechen davon weiterzureisen. Doch man bleibt in der
eisernen Stadt
um dann hier wie in einer Strafkolonie zwischen
Ruinen zu leben, bis man von der Zeit oder einem Zufall aus dieser Wildnis
befreit wurde oder einfach verschwand wie Echo, wie Lycaon und so viele vor
ihnen, die irgendwann hier aufgetaucht, eine Zeitlang in diesem Schutt gehaust
hatten und wieder verschwunden waren.
Viele Merkmale der eisernen Stadt in Ransmayrs
Letzter Welt finden sich auch bei
Ovid. Hier dienten allerdings nicht nur die Metamorphosen als Grundlage.
Ransmayr zog, gerade für die Gestaltung Tomis, Ovids Tristien und Epistulae ex
Ponto, die Briefe aus dem Exil, als Quellen für seinen Roman heran. Ovid
verwandelte in seinen Metamorphosen
die flache Landschaft des heutigen Rumänien in eine Gebirgslandschaft, indem er
den Kaukasus dorthin verlegte. Auch in der Letzten Welt
existiert eine ähnliche Veränderung, denn Cotta erreicht die eiserne Stadt,
noch von der hohen See schwankend, "am
Fuß der Steilküste."
Auch die Aufhebung des realen Zeitablaufs
findet sich sowohl bei Ransmayr als auch bei Ovid. Letzterer wollte damit wohl
den ihm verhassten Verbannungsort in einem noch schrecklicheren Licht darstellen,
was ihm auch durchaus gelungen ist.
Der Schnee liegt, und damit ihn, wenn er liegt,
Sonne und Regen nicht schmelzen können, macht ihn der Nordwind kalt und
beständig. Daher fällt schon der nächste, wenn der erste noch nicht vergangen
ist, und an vielen Stellen pflegt er zwei Jahre zu bleiben.
Als Cotta die eiserne Stadt erreicht,
bereitet man sich gerade vor, "das
Ende eines zweijährigen Winters zu feiern."
Wohl wichtiger ist die Schilderung der
Bewohner Tomis, die bei Ransmayr und Ovid völlig identisch ist.
Betrachte ich die Menschen - die Menschen sind
dieser Bezeichnung kaum würdig, wilder und grausamer als Wölfe sind sie.
Der Vergleich der Menschen mit Wölfen liegt
auch in der Letzten Welt ganz
offensichtlich vor. In Tomi spricht Thies, der Deutsche, immer wieder einen
Satz aus, welcher seine Lebenserfahrungen perfekt charakterisiert: "[...] der Mensch ist dem Menschen ein
Wolf."
Am deutlichsten kommt der Wolfscharakter
des Menschen bei Lycaon zur Geltung, jagt er doch oft genug als Wolf die karge
Steilküste entlang.
Von all den Gestalten in der Letzten Welt, die aus den Metamorphosen stammen, ist Echo
diejenige, die ihrem Vorbild aus der Mythologie am ähnlichsten ist. In den Metamorphosen wird die Nymphe Echo zuerst
ihrer Geschwätzigkeit beraubt. Dies ist die Rache der Juno dafür, dass die
Nymphe sie immer dann absichtlich in lange Gespräche verwickelt, wenn sich ihr
Gatte Juppiter gerade mit anderen Frauen vergnügt. Als Juno dieses Geheimnis
zwischen Echo und ihrem Gatten aufdeckt, straft sie die Nymphe, indem sie ihr
das Sprachvermögen nimmt; Echo ist nur noch fähig die letzten gesprochenen
Worte eines anderen wiederzugeben und wird zur Nymphe des Widerhalls,
die weder gelernt einem Anruf zu schweigen,
noch zu reden als erste, [...]
Sehr ähnlich verhält sich auch die Echo in
der Letzten Welt. Ransmayrs Gestalt "stellte keine Fragen, wiederholte
folgsam alle Anweisungen, [...]."
Echo spricht nur, wenn schon jemand vor ihr
sprach und gibt die letzten gesprochenen Worte ihres Gegenübers wieder, genauso
wie es die Figur Ovids nach der Bestrafung durch Juno tut. Deutlich wird dies
im Roman an mehreren Stellen, wie zum Beispiel an jener, in der Cotta Echo zum
ersten Mal sieh. Er fragt
Wer bist du [Echo]? und als die keine Antwort
gab, an Lycaon: Wer ist sie?
Jetzt hielt sich die Kniende die flache Hand vor
den Mund, als wollte sie sich selbst am Sprechen hindern, Hautflocken schneiten
auf ihre Brust, sie starrte Cotta an und wiederholte, wer bist du? streckte aber dann ihre Hand nach dem Seiler aus und
fragte ihn im Tonfall Cottas, wer ist
sie?
Das weitere Schicksal der mythischen Echo
übernimmt Ransmayr ebenfalls teilweise. Bei Ovid verschwindet die Nymphe
vollkommen, aufgrund ihrer unerfüllt bleibenden Liebe zu Narcissus. Nur ihre
Stimme - das Echo - bleibt sowie auch ihr Skelett, das zu Stein geworden sein
soll. Auch in der Letzten Welt verschwindet
die Gestalt, vermutlich in der Nacht während eines Unwetters. Im Gegensatz zu
Ovid liegt allerdings kein unmittelbarer Grund für das Verschwinden vor. So
sehr Cotta auch nach ihr sucht, sie ist und bleibt verschwunden. Der Leser
schließt daraus, dass sich Echo, genauso wie ihr Vorbild aus der Mythologie,
zum Widerhall verflüchtigt hat.
Aber so oft er [Cotta] ihren [Echos] Namen auch
rief - von den Abstürzen, den Überhängen und lotrechten Wänden, in deren
Kristallen und Schuppen aus Glimmerschiefer sich schon das Mondlicht brach,
schlug nur der Widerhall seiner eigenen Stimme zurück.
Ob auch das Skelett jener Echo aus der Letzten Welt zu Stein wird, darüber kann
man spekulieren; eine Spekulation, die durchaus ihre Berechtigung hat. Der über
ihre Haut wandernde Schuppenfleck scheint an Stein zu erinnern, an das Sterben
des Körpers. Dies wird in folgender Szene, Cottas erster Begegnung mit Echo,
deutlich.
Das ebenmäßige Gesicht der Knienden, die zu ihm
aufsah, war über und über mit Schuppen bedeckt, mit weißen Flocken
abgestorbener Haut, als hätte sie ihr Gesicht, ihre Hände in Kalk getaucht, der
nun über der Anstrengung ihrer Arbeit trocknete, riß und absprang.
Unter diesem erwähnten Schuppenfleck hat
Echo schrecklich zu leiden. Allerdings nur wenn er in ihr Gesicht wandert.
Verschwindet er unter den Kleidern, kommt die eigentliche Schönheit Echos zum
Ausdruck.
Kehrten die Schuppen aber auf ihr Antlitz
zurück, dann bereitete ihr oft nicht nur jede Berührung, sondern schon ein
gaffender Blick einen solchen Schmerz, daß von ihr ließ und sie mied, wer sie
liebte.
Hierbei handelt es sich wohl wieder um eine
Stelle, die Ransmayr von Ovid übernommen hat. Auch als Ovids Echo von Narcissus
verschmäht wird, verdeckt diese "schamvoll
das Antlitz und lebt von nun an in einsamen Grotten". Echos Heimat in der Letzten
Welt ähnelt der von Ovids Figur. In der Letzten
Welt lebt Echo in einer Ruine, eigentlich einer Höhle. Der Raum, in dem sie
lebt, ist aus dem Stein geschlagen. Hier spannt sich der Bogen zu Ovids Figur.
Beide Figuren bewohnen einen solch unwirtlichen Ort und leben zurückgezogen,
beide sprechen nur, nachdem ein anderer gesprochen hat.
Allerdings fügt Ransmayr der Gestalt seiner
Echo noch einen weiteren Aspekt hinzu, der für den Fortgang der Handlung
bedeutend ist. Die menschenscheue Echo wird zunächst Nasos Verbündete und
lauscht dessen Erzählungen aus den Metamorphosen.
Danach wird sie Cottas Vertraute und berichtet diesem von Nasos Geschichten. In
diesen Erzählungen scheint die so schweigsame Echo die Kunst der Sprache wieder
perfekt zu beherrschen. Redselig wird sie allerdings erst, als Cotta sie nach
Naso fragt, "nach dem Dichter aus
Rom, nach einem Verbannten im Gebirge und seinem verrückten Knecht", und
seinen Ohren nicht zu trauen glaubt,
"als Echo beiläufig und wie selbstverständlich ja sagte, gewiß, der arme
Naso sei doch bekannt bis Limyra und darüber hinaus." Das Erstaunen Cottas ist verständlich, da Echo sonst nie mehr als
die letzten Worte eines anderen zu wiederholen pflegte. Es scheint, "als habe es erst eines Losungswortes,
erst der Erwähnung von Nasos Namen bedurft, um ihre einsilbigen Antworten in
Erzählungen zu verwandeln [...]."
Es ist durchaus bemerkenswert, dass gerade
diese schweigsame Nymphe aus Ovids Metamorphosen
bei Ransmayr zur ergiebigsten Informationsquelle Cottas bei seiner Suche
nach Nasos verschollenem Werk und damit zur Schlüsselfigur des Romans wird.
Streng genommen ist Cyparis kein Einwohner
der eisernen Stadt. Der Grund dafür, dass er hier angeführt werden soll, liegt
in seinem Auftreten, das sich rein auf Tomi beschränkt. Seine Filmvorführungen
stellen für die Bewohner Tomis einen unschätzbaren Wert dar.
Zuerst sollen die Unterschiede zu Ovids
Cyparissus erläutert werden, der im zehnten Buch der Metamorphosen zu finden
ist. Dieser Cyparissus ist ein schöner Jüngling, dessen liebster Spielgefährte
ein riesiger zahmer Hirsch ist. Als das Tier durch die Hand, besser gesagt,
durch den Speerwurf des Cyparissus stirbt, wird Letzterer in eine Zypresse
verwandelt um, wie er es selbst wünscht, ewig trauern zu können.
In der Letzten
Welt wird der Name auf Cyparis abgekürzt. Der in den Metamorphosen beständige Charakter wird fast zur Gänze abgeändert.
Es entsteht ein völlig neues Bild und eine Vernetzung zu anderen Mythen. Aus
dem schönen Jüngling wird ein Liliputaner, der sich als reisender Filmvorführer
sein Geld verdient und einmal im Jahr auch die Stadt Tomi besucht. Alle Bürger
Tomis harren seiner Ankunft, um sich mit seinen Filmen von anderen Welten den
öden Alltag versüßen zu lassen.
Mit ihm zieht noch ein müder Hirsch des
Weges, der Publikum anlocken soll. Welch innige Beziehung zwischen Cyparis und
dem Hirsch besteht, geht aus der Letzten
Welt selbst nicht hervor und wird nur demjenigen offensichtlich, der auch
den Inhalt der Metamorphosen kennt.
Beide Charaktere scheinen sich hier in der Letzten Welt in ihr Gegenteil verwandelt
zu haben. Aus dem schönen Jüngling wird ein Liliputaner und aus dem heiligen
und starken Hirschen ein müdes und abgezehrtes Tier. Viel wichtiger ist
allerdings die Tatsache, dass Cyparis der Filmvorführer seinen vierbeinigen
Freund nicht tötet, somit nicht trauern muss und sich daher auch nicht
verwandelt. Die eigentliche Metamorphose des Cyparissus in eine Zypresse findet
keinen realen Vollzug. Ransmayr verschiebt diese Verwandlung in einen Traum der
Figur. Der Grund dafür ist allerdings nicht Trauer, sondern Sehnsucht. Der
Liliputaner sehnt sich nach Größe und Schlankheit.
Manchmal schlief er [Cyparis] während der
Vorführung über solchen Sehnsüchten ein und träumte von Bäumen, von Zedern,
Pappeln, Zypressen, träumte, daß er Moos auf seiner harten, rissigen Haut trug.
Dann sprangen ihm an den Füßen die Nägel auf, und aus seinen krummen Beinen
krochen Wurzeln, die rasch stark wurden und zäh und ihn tiefer und tiefer mit
seinem Ort zu verbinden begannen. Schützend legten sich die Ringe seiner Jahre
um sein Herz. Er wuchs.
Dass Cyparis gerade von Bäumen zu träumen
beginnt, ist durch die Metamorphosen festgelegt.
Der Cyparissus des Ovid wird in eine Zypresse verwandelt und so ist es nicht verwunderlich,
dass sich gerade diese unter den von Ransmayr oben aufgezählten Arten befindet.
Deutlich wird in diesem Traum seine
Sehnsucht nach einer anderen Gestalt. Er steckt all seine Kraft in die
Bewegung, in sein Dasein als umherziehender Filmvorführer. Dadurch bleibt ihm
jedoch keine Energie für Größe mehr übrig. In der stationären Form eines Baumes
hingegen kann er seine Kraft in das Wachstum investieren. Cyparis reicht dieser
Traum zum Glücklichsein; er benötigt keine reale Verwandlung in diesen Zustand. Der Dialog mit dem Traum reicht ihm völlig aus. Vor allem im
Augenblick des Erwachens, wenn er noch das Knirschen der Rinde oder den sich im
Wind wiegenden Wipfel zu spüren glaubt, ist "Cyparis,
der Liliputaner, glücklich."
Als der Filmvorführer in die eiserne Stadt
kommt, erstaunt er die Bewohner nicht nur durch sein frühes Erscheinen - dieses
Mal erreicht er die Stadt im Frühling anstatt wie sonst immer im August -,
sondern auch durch seine neue Ausstattung.
Das Zaumzeug, habe er auf dem Jahrmarkt in
Byzanz gegen drei Vorführungen eingetauscht, eine Kostbarkeit. Und dort habe
ihm ein Kulissenmaler auch die Wagenplane mit dem Tod eines griechischen Jägers
verziert, Actaeons Tod, eines Idioten, der sein idiotisches Ende zwischen den
Fängen seiner eigenen Schweißhunde gefunden habe. Das Tiefrote hier, über den
Faltenwurf der Plane Verspritzte, das Leuchtende, das sei alles Jägerblut. Und
lachte.
Hier vernetzt sich nun der Mythos des
Cyparis mit dem Schicksal des Jägers Actaeon, der von Diana in einen Hirsch
verwandelt wird und so von seinen eigenen Hunden angegriffen und zerfleischt
wird. In der Handlung wird dieses wichtige Detail, in dem sich eine
Metamorphose versteckt, verschwiegen. Die Szenerie des Todes passt perfekt zu
der Grundstimmung der Letzten Welt.
Wichtig für die Verbindung von Actaeon und Cyparissus ist auch die "Wandlung des Jägers zum
Gejagten," wie Martin Kiel betont. Der in einen Hirsch verwandelte Actaeon
wird ein Opfer seines eigenen Jagdtriebes. Ovids Cyparissus hat seinen Freund,
den Hirsch, mit dem Jagdspeer durchbohrt. Eine Möglichkeit wäre, dass Cyparis
durch diese Darstellung des Actaeon auf seinem Wagen sowie auch durch das
Mitführen des Hirsches seinem von Ovid vorgegebenen Schicksal entfliehen kann.
Kiels Spekulationen gehen noch weiter und ziehen in Betracht, dass es sich bei
diesem Hirsch um den geretteten Actaeon handeln könnte.
In den Filmen des Cyparis erweitert sich
die Vernetzung einiger ovidischer Mythen mit dem Cyparis-Mythos. Auf der
Schlachthausmauer des Tereus flimmern in der Anwesenheit des Cyparis die
Geschichten fremder Welten. Gleich neben dem Ort des Todes, dem Schlachthaus,
projiziert Cyparis das Leben und die Verwandlung.
Am ersten Filmabend zeigt er den Bewohnern
Tomis das Melodrama Ceyx und Alcyone, die
Geschichte zweier Liebender, die sich trennen müssen. Ceyx erleidet
Schiffbruch, ertrinkt und wird dann in einen Vogel verwandelt. Als Zeichen
ihrer großen Liebe wird auch Alcyone zum Vogel und die beiden sind wieder
vereint.
Das Grundgerüst der Handlung bleibt bei
Ransmayr größtenteils gleich. Ein Unterschied ist, dass in der Letzten Welt der Tod Ceyx' in einem
Traum Alcyones vorweggenommen wird, noch bevor ihr Gatte das Schiff besteigt,
während bei Ovid eine Traumgestalt Alcyone erst nachträglich vom traurigen
Schicksal ihres Gatten berichtet. Doch es scheint, "als ahnte sie kommendes Unheil“ schon im Unterbewusstsein bevor ihr davon berichtet wird.
Die Alcyone Ransmayrs glaubt an die
Rückkehr von Ceyx, auch als ihr Traum längst in Erfüllung gegangen ist. Alcyone
"glaubte ihren eigenen Träumen
nicht", sie glaubt fest daran, dass Ceyx wieder heil die heimatliche Küste
erreichen wird. Sie "nähte an einem
Kleid, das sie zum Fest von Ceyx Rückkehr tragen wollte." Ganz ähnlich verhält sich auch Ovids Alcyone, die noch nichts von
dem schrecklichen Geschehnis weiß. Sie "wählt
schon das Kleid, das sie selbst soll schmücken, wenn Er kommt,".
Der verheerende Sturm auf hoher See wird
völlig unterschiedlich geschildert. In den Metamorphosen
stellt Ovid ein realistisches, Angst einflößendes Bild dar, eine tobende See,
der das Schiff Ceyx' letztendlich unterliegen muss. In der Letzten Welt hingegen entsteht ein Bild, das Ransmayr nicht umsonst
als "grandiose Lächerlichkeit" bezeichnet. Es wird deutlich, dass das Unwetter nur inszeniert und
das Meer nicht echt ist. Auch dass das Schiff nur so groß wie ein Spielzeug
ist, bleibt den Zuschauern nicht verborgen. Wenn man an einer Küste lebt, kennt
man das Meer zu gut, als dass man auf solch einen billigen Trick hereinfallen
würde. Außerdem erinnert das Meer die Bewohner Tomis an ihr eigenes Leben.
Dieser Film zeigt keine fremden Welten, die von dem eigenen monotonen Leben
ablenken können, und so stößt er eher auf Ablehnung beim Publikum.
Diesem Melodrama folgen noch drei weitere
Filme. Der erste dieser Trilogie zeigt die Geschichte des Untergangs der Stadt
Troia sowie den Tod des troianischen Helden Hector, welcher von
Achilles
so lange um die Mauern seiner eigenen Festung
geschleift worden war, bis sein furchtbarer Tod an einer langgezogenen Meute
von Hunden sichtbar wurde, die sich um die weithin verstreuten Fetzen seines
Fleisches balgten.
Dieses tragische Ende Hectors geht auf die Metamorphosen zurück. Ovid schreibt von "Hector, der rings um sein Troia
geschleift ward." Daran lässt sich einmal mehr
Ransmayrs genaue Recherche und seine teilweise sogar wörtliche Übereinstimmung
mit der Vorlage erkennen - selbst nach zweitausend Jahren verwendet der Autor
noch dasselbe Verb wie Ovid im römischen Epos.
Die nächste Heldengestalt aus den Metamorphosen, deren Schicksal in der Letzten Welt zur Grundlage eines Films
wird, ist Hercules. Die zweite
Tragödie berichtet von seinem grausamen Tod durch ein vergiftetes Hemd, welches
ihm Lichas, eine Figur aus der Mythologie, die ebenfalls ihren Platz in der Letzten Welt gefunden hat, überreicht.
Danach muss Hercules mit ansehen, wie dieses verzauberte Hemd mit ihm
verwächst,
auf seinem Leib wie siedendes Öl zu brennen
begann und nicht anders wieder abzustreifen war als mit dem Leben selbst.
Stöhnend, brüllend, schließlich rasend vor
Schmerz riß sich dieser unbesiegbare Mensch mit dem Hemd Haut und Fleisch von
den Knochen [...]. Und das Licht dieses Tages sammelte sich in sieben Teichen, zu
denen das Blut und der Schweiß dieses Unglücklichen zerrannen, [...]
Dieses Ende lässt sich in einem ganz
ähnlichen Wortlaut auch in den Metamorphosen
wiederfinden. Dort heißt es, als Hercules verzweifelt versucht sich des
todbringenden Kleidungsstücks zu entledigen:
Doch, wo er reißt, reißt Haut es mit, und -
gräßlich zu sagen -
Haftet entweder fest trotz allem vergeblichen
Zerren
Oder zerfleischt seinen Leib, legt bloß die
mächtigen Knochen.
Bei Ransmayr lassen sich viele Wörter, die auch
Ovid verwendet, ausfindig machen. Ransmayr verwendet das Verb "reißen" nicht rein zufällig,
sondern wohl um wieder die Verbindung zum Originaltext herzustellen. Ähnlich
verhält es sich auch mit den "Knochen",
die in beiden Texten erwähnt werden.
Dass sich das Tageslicht mit dem Schweiß
und Blut des Helden in sieben Teichen sammelt, scheint rein Ransmayrs Phantasie
entsprungen zu sein, denn davon lässt sich in den Metamorphosen nichts finden. Nach diesem grausamen Tod wird
Hercules als Sternbild verewigt, eine Tatsache, die Ransmayr wieder übernimmt.
Das Ende des letzten Filmes, Orpheus, bleibt für die Bewohner Tomis
unbekannt, da der bereits oben erwähnte Lichas, der in der Letzten Welt in der Gestalt eines Missionars auftaucht, die
Fortführung des Filmes mit der Begründung, dass Karfreitag sei, verhindert. So
bleibt der Ausgang der Handlung im Ungewissen und die Bewohner erleben nur die
ersten Szenen des Films. Der schreckliche Tod des Orpheus aber wird ihnen
vorenthalten. Verborgen bleibt ihren Augen, wie er "von in Pantherfelle und Rehdecken gehüllten Frauen gesteinigt
werden sollte, gehäutet und mit Beilen und Sicheln zerstückelt, [...]."
Auch hier hat sich Ransmayr strikt an die
vorgegebene Handlung gehalten und nur kleine, für den Inhalt unwichtige Details
verändert. In den Metamorphosen haben
Orpheus' Mörderinnen "die besessene
Brust mit Tierfell bedeckt". Ovid schreibt nicht, um welches Tierfell es sich dabei handelt,
während Ransmayr in seinem Roman dem Leser darüber Auskunft gibt. Die Attacken
mit Steinen hat Ransmayr aus den Metamorphosen
übernommen, jedoch, dass die Mänaden ihr Opfer häuten, lässt sich bei Ovid
nicht finden. Auch dienen ihnen zur Vollendung ihrer Grausamkeit andere
Werkzeuge als jene, die Ransmayr in seinem Roman als Mordwaffen angibt.
Da lagen zerstreut umher auf dem leeren
Acker die Hacke, der schwerere Karst,
langstielige Hauen.
Die errafften die Wilden, [...]
und stürzen aufs neu, des Sängers Los zu
besiegeln.
Und sie ermorden ihn, [...]
Weit zerstreut seine Glieder.
Mit der Letzten
Welt ist Ransmayr zwar nicht das gelungen, was er eigentlich zuerst
vorhatte, eine Prosafassung der Metamorphosen,
allerdings würde deshalb wohl niemand von einem Verlust sprechen, ganz im
Gegenteil. Durch diesen Roman gewannen die mythologischen Gestalten nur noch
mehr an Faszination. Ransmayr lässt die Figuren Ovids noch einmal auferstehen.
Sein Romantext legt sich um eine leere
Mitte, um ein scheinbar verlorenes Werk. Dabei handelt es sich um nichts
Geringeres als um die Metamorphosen
selbst, die uns bekanntlich in der Realität glücklicherweise erhalten geblieben
sind. Auf diesen angeblichen Verlust der Metamorphosen
baut nun die Handlung der Letzten Welt auf.
Aus den in Flammen aufgegangenen Verwandlungen wird die Wirklichkeit selbst und
zwar in der eisernen Stadt Tomi.
Die Lesart, Ovid hätte die Metamorphosen vernichtet, wird suggeriert, und so findet Cotta eben
dort nicht die Metamorphosen, sondern
tatsächlich deren Personal vor, freilich in moderner Redaktion: Ransmayrs Die letzte Welt übernimmt von den
Metamorphosen nicht nur das Personal, dessen Schicksal in Variation
wiedergegeben wird, sondern vor allem das Prinzip der Metamorphose, der
Verwandlung.
Das Umfeld der Figuren und vor allem sie
selbst werden der Gegenwart und der Handlung des Romans angepasst, ihre
Verwandlungen bleiben allerdings gleich, wenn auch der Ablauf etwas vom
Original abweicht. Nicht alle Verwandlungen treten in der Wirklichkeit des
Romans auch ein, wie etwa die Metamorphose des Filmvorführers Cyparis, die sich
bei Ransmayr nur im Traum vollzieht, während in den Metamorphosen die Verwandlung des Cyparissus Realität wird.
Die Verwandlungen einiger Figuren, wie etwa
die des Lycaon oder die der Echo, bleiben in Schwebe, bis hin zu dem Moment, wo
auch Cotta die Wahrheit erfährt und die Fetzen des Pythagoras findet, eine
Dokumentation aller Verwandlungen in Tomi.
Um das Moment der Moderne noch einmal
deutlich in den Roman einwirken zu lassen, verpackt Ransmayr noch einige
Metamorphosen in die Filme des Cyparis, wobei ich hier gleich meine
Verwunderung darüber aussprechen möchte, dass Ransmayr gerade die unbekannteste
dieser Verwandlungsgeschichten am genauesten beschreibt, während die
bekannten wie das Schicksal des Hercules
oder des Hector nur in wenigen Sätzen erläutert werden. Vermutlich gerade
deswegen, weil die Letzteren bekannter sind und weit über die Metamorphosen hinausreichen.
Das Finale der Letzten Welt kündigt das Ende der Welt an, ein nahe liegender
Schluss, allein bei der Betrachtung des Romantitels. In gewissem Sinne scheint Die letzte Welt eine nochmalige
Vollendung der Metamorphosen zu sein.
Ransmayr erzählt die Geschichte zu Ende und baut dabei auf dem Grundgerüst des
ovidischen Epos auf. "So wie Ovid
die Geschichte von den Anfängen bis zur Zeit des Augustus erzählt, so erzählt
sie Ransmayr von diesem Punkt an bis zum Ende der Welt [...]." Wie am Anfang vor der Entstehung der Welt bei Ovid das Chaos
herrscht, so rückt bei Ransmayr gegen Ende des Romans die apokalyptische Vision
einer menschenleeren „letzten“ Welt unabwendbar heran. Das schon kurz
bevorstehende Ende greift die Anfangssituation bei Ovid wieder auf und damit
schließt sich der Kreis.
Zuletzt bleibt nur noch der Monolog; Cotta geht ins
Gebirge, und er ruft seinen Namen in die tote Natur und ruft "hier!",
"wenn ihn der Widerhall des Schreies erreichte; denn was so gebrochen und
so vertraut von den Wänden zurückschlug, war sein eigener Name." Was übrig
bleibt, ist das Echo [...].
Ich erkläre, dass ich die
Fachbereichsarbeit ohne fremde Hilfe verfasst und dazu nur die angegebene
Literatur verwendet habe. Außerdem habe ich die Arbeit einer Korrektur
unterzogen und Tippfehler ausgebessert.
Datum: 9.3.2001 Unterschrift:
Sonja Wolfartsberger